Versöhnung ist möglich


Vor 12 Jahren habe ich ein Seminar von AGAPA besucht. Bis heute hat dies Nachwirkungen, von denen ich berichten will.
Sie sind wie Katz und Hund - könnte man sie beschreiben. Wen? Meinen Vater und mich. Wir sind uns wohl ähnlich und deshalb fehlt er mir manchmal sehr. Er ist vor 4 Jahren plötzlich zwei Wochen nach einem überstanden Herzinfarkt verstorben. Ich konnte mich nicht persönlich von ihm verabschieden. Aber zwei Wochen vorher, es war Ostern, waren wir Geschwister alle zusammen bei meinen Eltern, als mein Vater ins Krankenhaus kam.
Als er dort in seinem Bett auf der Intensivstation lag, wollte ich ihm bei meinem letzten Besuch vor der Abreise sagen, dass ich ihn liebe. Ich zögerte und sah ihn länger an als sonst, aber ich konnte es nicht. In unserer Familie war das nicht üblich. Liebe wurde durch Versorgen ausgedrückt und nicht durch Worte oder Berührungen. Aber unser Blick ging tief und wir beide haben verstanden - das glaube ich zumindest. Es war mein letzter Kontakt mit meinem Vater.
Heute habe ich Frieden. Nein, es nicht so, dass wir viel Streit miteinander gehabt haben. Das lag uns nicht, weder mir, noch ihm. Aber ohne Worte lief viel ab zwischen ihm und mir. Ich wusste, wie ich mich zu verhalten habe, Widerspruch duldete er nicht. Ich musste wissen, was er wünschte und es tun. Am Gesicht habe ich es ihm angesehen. War er schlecht gelaunt, habe ich mich zurückgezogen, hatte ich eine andere Meinung, durfte ich sie nicht äussern. Natürlich hat er dies nie so gesagt, wir waren ja fromm. Ich spürte es aber, dass eine eigene Meinung zu haben, die anders war, als die von meinem Vater schlimm war. Mein Vater deutete dies als persönlichen Angriff und dass ich ihn ablehnte. Es entstand ein Gefälle. Mein Vater, der alles für mich tat und gerne gross auftrat und ich als dankbare Tochter, die ihre Bedürfnisse nicht sagen durfte und noch weniger konnte. Immer wieder passierte es mir mit anderen dominanten Personen, dass ich sprachlos und hilflos wurde, wie ein Kind, wenn es zu Konflikten kam und jemand mich dominierte oder manipulierte. Wut oder Aggressionen kann ich nur sehr schwer zulassen bei Menschen, die mir nahe stehen. Ich habe Angst sie zu verlieren. Das ist auch heute noch so. Ich bin verunsichert und habe mich in Frage gestellt. Darf ich so sein, wie ich bin? Was passiert, wenn ich die Bedürfnisse der Menschen, die ich liebe nicht wahrnehme, wenn ich meine eigenen äussere? Nein, viel zu oft habe ich mich entschieden, nein zu sagen zu meinen Gefühlen und Wünschen. Ich hatte Angst die Reaktionen meines Gegenübers nicht aushalten zu können. Ich hatte Angst nicht mehr geliebt zu werden. Ich habe meinen Vater viel kritisiert und bin innerlich hart mit ihm ins Gericht gegangen. Ich wollte von ihm geliebt werden, aber er verletzte mich immer wieder. Das hat mir sehr wehgetan und ich habe mich oft von ihm distanziert und schlecht über ihn geredet. Ich habe mich auch innerlich über ihn gestellt, weil ich ihn verurteilt habe und fühlte mich als besserer Mensch und besserer Christ. In Gedanken habe ich ihm alle möglichen Verhaltensweisen vorgeworfen und ihn nicht mehr ernst genommen. Und doch liebte ich ihn und doch wollte ich von ihm geliebt werden.
2003 habe ich ein Seminar bei AGAPA besucht. Es war eine sehr intensive Zeit. Über meine Familie hatte ich schon vorher nachgedacht und auch schon in vielen Gesprächen Seelsorge und Rat eingeholt, aber es hatte sich nicht viel geändert bei mir. Durch das Seminar habe ich gelernt meiner Situation ins Auge zu sehen. Wir alle sind Täter und Opfer und manchmal  Beobachter in unseren Beziehungen. Die Rollen wechseln und viele Verletzungen geschehen.
Das Thema Versöhnung nahm einen grossen Raum ein. In den letzten Jahren hat sich die Beziehung zwischen mir und meinem Vater verändert. Ich habe mich nicht getraut das direkte Gespräch mit ihm zu suchen über die Verletzungen die geschehen waren. Auch konnte ich ihm keinen Brief schicken. Aber ich habe einen verfasst. Alles habe ich aufgeschrieben: Die Verletzungen, die er mir zugeführt hat, aber dass ich auch sehe, dass er seine Narben besitzt und dass ich mir wünsche, dass es einen Neuanfang gibt. Obwohl mein Vater nichts davon wusste, merkte ich, dass ich mich nach und nach veränderte. Es entstand eine andere Beziehung. Ein seidener Faden wurde gespannt, ein Faden des Verstehens und Zuhörens. Ich merkte, wie ähnlich wir uns waren und dass wir ähnliche Bedürfnisse hatten. Ich spürte seine Verletzungen und es tat mir leid, ihn leiden zu sehen. In den letzten Monaten vor seinem Tod bedrückten ihn viele Belastungen, von denen wir als Familie nichts wussten. Ich konnte in persönlichen Gesprächen ohne zu urteilen zuhören und hatte das Gefühl, dass ich jetzt etwas geben konnte, was ihm wertvoll war. Das hat mir sehr viel bedeutet. Ich bin AGAPA und seinen Mitarbeitern und vor allem Gott dankbar, dass Versöhnung möglich ist. Gott möchte Leben schenken und zwar allen. Jeder Mensch wird verletzt in seinem Leben, aber jeder verletzt auch andere. Es gibt keine Ausnahmen. Jetzt kann ich das sehen und annehmen und bin froh, dass eine Veränderung in der Beziehung zu meinem Vater passieren konnte. Er war erst 69 Jahre alt - ich hatte nicht damit gerechnet, dass er uns so früh verlässt. Ich bin dankbar, dass ich ihm Liebe schenken konnte und ich weiss auch, dass er mich liebte.